Live-Shopping: Einkaufen als Schatzsuche

27. April 2022

„Live-Shopping“ ist kein Trend. Es läutet den Wechsel ein, Produkte über Live-Videos zu verkaufen statt über Fotos. Bisher hat es das Phänomen nicht aus China herausgeschafft. Doch das ändert sich gerade durch den amerikanischen Marktplatz Whatnot, der Waren prüft, bevor sie verkauft werden. 

Nur um einzuordnen, worüber wir hier reden: Das chinesische Live-Shopping wird 2022 nach einer Schätzung von McKinsey 400 Mrd. US-Dollar schwer sein. Damit ist dieser sehr junge Teilbereich des E-Commerce-Marktes allein mehr als sechsmal so groß wie der ganze indische E-Commerce-Markt von jährlich 60 Mrd. US-Dollar zusammen. Wir reden also von keinem Zukunftspotenzial, wir reden von einem gigantischen Geschäftsmodell, das bisher noch nicht zu uns gefunden hat. Und dann kam Covid. Händler waren gezwungen, ihre Kunden über physische Geschäfte hinaus auf neuen Wegen zu erreichen.

Die Pandemie änderte die Art, wie wir einkaufen

Wir kauften nicht mehr, nur um uns zu versorgen. Wir kauften, um uns in der schwierigen Zeit zu trösten, abzulenken und uns zu unterhalten. „Shopatainment“ nennt das Connie Chan. Sie ist übrigens die erst zweite Frau, die Partnerin beim Risikokapitalisten Andreessen Horowitz wurde, und eine der führenden Expertinnen, wenn es darum geht, die neuesten Geschäftsentwicklungen von Chinas Big Tech-Konzernen zu erklären. Außerdem ist sie befangen, denn ihr Unternehmen investierte in den ersten Livestreaming-Marktplatz der westlichen Welt mit einer Milliarden-Bewertung, Whatnot.

Echtheit schafft Vertrauen

Besonders effizient ist Live-Shopping für Produkte, die entweder exklusiv oder anderswo schwer zu finden sind: Sammlerstücke, seltene Streetwear und dergleichen. Nicht nur das haben Grant LaFontaine und Logan Head verstanden, als sie 2019 Whatnot gründeten, vor allem lösten sie ein Problem, das davor etwa schon die Mode quälte: Fälschungen. Denn bevor Verkäufer seltene Comic-Bücher, Sneaker oder Pokémons verkaufen können, muss man sie an Whatnot schicken und für echt erklären lassen. Erst dann werden sie zum Käufer weitergeschickt. Dieser Service kostet etwa 9 Prozent des Warenwerts plus Versand und brachte Whatnot seinen größten Mehrwert: hohes Vertrauen unter Käufern.

Kein alter Wein, sondern neue Schläuche

Seit Februar 2022 können auch Kunden der Drogeriemarktkette dm in der „Mein dm“-App bei Livestreams kommentieren und Produkte der Show direkt in den Warenkorb legen, wenn etwa zwei Hebammen fachkundig eine sinnvolle Erstausstattung für Babys erklären. Auch wenn Europa bei dem Thema vorerst noch in Kinderschuhen steckt, zeigt es den Wandel, der hinter diesem Phänomen steht: Kunden wollen nicht mehr in statischen Fotokatalogen herumklicken. Sie wollen „bespielt“ und überzeugt werden, wie es tagtäglich auf TikTok und Instagram passiert. Dieses gelernte Verhalten zwingt Händler dazu, Videos anstelle von Fotos zu nutzen, wenn sie erfolgreich verkaufen wollen.

Für welche Branchen sich neue Chancen eröffnen

Live-Shopping eignet sich nicht für jede Branche. Marktplätzen, Lebensmittel- und Getränkelieferanten, der Beautyindustrie sowie der Mode und Wohnkultur eröffnet es aber spannende neue Chancen. Willhaben und die meisten Marken mit Geschäften an der Wiener Mariahilferstraße müssten eigentlich schon an einem Livestreaming-Modell arbeiten, wollen sie an diesem enorm wachsenden Kuchen mitnaschen. Wenn Zuseher in einem Videostream vor dem Kauf eines Produkts live Fragen stellen und beantworten lassen können, bringt das in China oft zehnmal höhere Kaufabschlüsse als im stationären Handel.

Es geht darum, eine Verbindung zum Käufer herzustellen

Die erfolgreichsten Verkäufer verstehen es, eine emotionale Verbindung zum Käufer aufzubauen. So wie Musiker uns zu ihren Konzerten locken, obwohl wir sie auf Spotify in besserer Qualität hören könnten, und wir nach den teuren Konzertkarten auch noch Geld für T-Shirts ausgeben, weil es uns ein Gefühlsbad beschert hat, in dem wir uns auch weiter suhlen wollen. Für europäische Augen oszilliert chinesisches Live-Shopping zwischen visuellem Wahnsinn und Unverständnis, Spielshow und Theater. Wie wenig es mit dem plumpen Verkaufsfernsehen früherer Tage zu tun hat, zeigt allein der Grad der Professionalisierung im Mutterland des Live-Shoppings.

Wenn Wohnhäuser zu Produktionshäusern werden

Chinesische Livestreams sind gescriptet und oft von Schauspielern moderiert. Top-Influencer greifen auf Drittunternehmen zurück, die alles von Beleuchtung und Make-up über Waren- und Drehbuchentwicklung bis hin zu Lieferkettenmanagement und Versandabwicklung liefern. Sie arbeiten in Produktionshäusern, die wie gewöhnliche Wohnhäuser aussehen, aber hinter jeder Tür befindet sich ein Live-Shopping-Set, das man stundenweise mieten kann. Diese Teams arbeiten teilweise auf Provisionsbasis und erhalten einen Anteil an erfolgreichen Shows. Es gibt eine Armee unterstützender Unternehmen, die die Shopatainment-Branche antreibt.

Was kannst du erzählen?

Nachhaltig erfolgreich werden nur Marken und Verkäufer, die es schaffen, spannende Geschichten erzählen zu können, die über das Produkt hinausgehen. Whatnot-Livestreams sind ansprechend, weil Sammler über ein Thema sprechen, das sie am besten kennen: Sammlerstücke! Ein weiterer Unterschied zum TV-Shopping. Dann ist es eine Schatzsuche, bei der einzukaufen wieder Spaß macht. Wo, ähnlich wie bei Pinterest, das Einkaufen zu einem Nebenprodukt der Unterhaltung wird und Käufer wiederkommen, haben sie einmal Vertrauen gewonnen. Wem gelingt das als Nächstes in Österreich?

Erschienen in Cash am 27.04.2022

Zu diesem Thema ist auch ein Beitrag in Medianet am 20.05.2022 erschienen.

Foto: Priscilla Du Preez /Unsplash

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